Gyde Jensen, Mitglied des Bundestages, Vorsitzende im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und jüngste weibliche Abgeordnete im 19. Deutschen Bundestag. Sie studierte Anglistik, Politikwissenschaft und internationale Politik und sammelte nach dem Studium Erfahrung in Genf und Washington. In ihrer Freizeit engagiert sie sich seit 2010 bei den JuLis und der FDP in Schleswig Holstein.

Gyde Jensen war bei der Wahl vom 24. Juni 2018 in der Türkei vor Ort und hat über diese berichtet.

PPJ hat zu der Menschenrechtslage in der Türkei und der EU und der gefährdeten Demokratie nach der Wahl folgende Fragen gestellt…

 

Die Türkei hat die meisten Geflüchteten aufgenommen mit 3,5 Mio. Menschen. Darunter befinden sich eine Vielzahl von Kindern, die unter schwersten Umständen leben müssen und teilweise nicht ausreichend geschützt sind vor Gewalt und Missbrauch. Glauben Sie, dass die EU ausreichendes Interesse für diese Kinder zeigt und dieses auch tatkräftig umsetzt?

 

So viele Menschen in so kurzer Zeit aufzunehmen, ist für uns Europäer kaum vorstellbar. Der gesellschaftliche Kraftakt Geflüchtete aufzunehmen, ist immer enorm. Kinder leiden am meisten unter Konflikten und müssen besonders geschützt werden. Die Lager, in denen Menschen untergebracht sind, müssen entsprechend ein Schutzraum für Kinder sein, mit genügend Sicherheitspersonal, Bildungsmöglichkeiten und psychologischer Betreuung. Für mich ist besonders wichtig, dass gerade die EU auf die Einhaltung humanitärer Standards drängt. Das heißt, dass es konkrete Regelwerke dafür benötigt, die wir in dieser Form leider so noch nicht haben.

 

Es wird stark kritisiert, dass während den Wahlen in der Türkei die Oppositionsparteien nicht gleichstark werben konnten über Medien da diese seitens der Regierungspartei AKP kontrolliert werden. Ebenso sollen gerade im Osten der Türkei immer wieder Hinderungsversuche in den Wahllokalen und an den Urnen stattfinden um das Wahlergebnis der HDP zu schwächen. Was können derartig manipulative Eingriffe in Bezug auf die Sicherheit der Wahl für Auswirkungen haben?

 

Mal ganz ehrlich, mit was hatten wir es in der Türkei zu tun? Das war ganz sicher nicht das, was wir unter fairen, freien und demokratischen Wahlen verstehen. Wann kam Deniz Yücel frei? Im Mai. Und wie viele Journalisten sitzen dort immer noch in Haft? Über hundertfünfzig. Zu viele. Schlimm genug, aber dann sitzt der Präsidentschaftskandidat S. Demirtas der HDP ebenfalls im Gefängnis und im staatlichen Fernsehen, hier findet Zensur statt. Das ist das, was wir in Europa treffend unter einer ‘illiberalen Demokratie’ verstehen. Und dann die hohe Polizeipräsenz, unter der diese Abstimmung stattgefunden hat. Die Gewalt im Südosten ist ebenso ein Beleg für die Spaltung, die Erdogans Strategie des kalten Machterhalts bewirkt.

 

Ich will aber ebenso an die Kundgebungen in Izmir und Istanbul erinnern, die zigtausende Menschen bewegt haben, trotz des Erdogan-Regimes, für Freiheit und Demokratie auf die Straße zu gehen. Das sind mutige Leute, die sich über Social Media organisiert und damit gezeigt haben, wie Demokratie in der Türkei aussehen kann. Jetzt liegt es gerade an uns Europäern, diese Kräfte weiter zu stärken.

 

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 befinden sich 200 Kleinkinder mit über 10.000 Frauen wegen Terrorbeschuldigung im Gefängnis. Über die Lage Vorort sickern besorgniserregende Berichte. Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

 

Wir sehen hier, wie mehrere Tausend Menschen, unter Generalverdacht gestellt und eingesperrt werden. Darunter wie Sie sagen sogar Kleinkinder, das ist absurd. Das sagt, ich vertraue Dir keinen Meter, ich bringe Dich unter Kontrolle. Wenn nötig, mit allen Mitteln. Das hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit, nichts mit liberalen Werten zu tun. Die Türkei hat damit alle Eigenschaften einer Autokratie angenommen. Aber betrachten wir auch die andere Seite: Der Putsch war nichts als ein vergiftetes Geschenk an Erdogan zulasten der türkischen Gesellschaft. Man sieht doch an der Türkei, dass der Einsatz von Gewalt die Situation der Menschen nicht verbessert hat. Die Terror-Gesetzgebung schränkt auch nach offiziellem Ende des Ausnahmezustands Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei grundlegend ein.

 

Es wird nur dann schizophren, wenn man sich bei Menschenrechten einen schlanken Fuß macht, gleichzeitig sich im Ausland aber auf selbige beruft. Die AKP will unbedingt Wahlkampf in Deutschland machen, sperrt aber gleichzeitig den aussichtsreichsten Widersacher Erdogans bei den Präsidentschaftswahlen ins Gefängnis. Die Türkei möchte unbedingt weiter Beitrittshilfen beziehen, verabschiedet aber eine Verfassungsreform, die mit Werten wie Rechtstaatlichkeit und Demokratie rein gar nichts zu tun haben.  Das gehört aber zusammen. Sonst führt es den Freiheitsgedanken völlig ad absurdum. Wer Grundfreiheiten nicht achtet, sollte sich auch nicht auf selbige berufen.

 

Da finde ich, hört es mit der Zurückhaltung auf. Die Bundesregierung muss deutlich machen, türkischen Wahlkampf darf es so in Deutschland nicht geben. Und sie muss deutlich machen, wir haben ein strategisches Interesse zusammenzuarbeiten, aber unter den EU-Beitritt ziehen wir mit dieser Türkei jetzt auch offiziell einen Strich.

 

Glauben Sie, dass das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und Deutschland die deutsche Regierung daran hindert, stärkere Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung zu äußern oder gar einzuschreiten?

 

Machen wir uns doch einmal ehrlich: Es braucht Abkommen, gerade in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, um Migrationsbewegungen vernünftig zu ordnen. Das leuchtet auch jedem ein. Abkommen, auch das mit der Türkei, sind immer die erste Grundlage, die Bedingungen für Menschen zu verbessern. Bislang fehlt uns diese erste Grundlage mit nordafrikanischen Staaten. Doch mit Ordnung kommt gleichzeitig die Humanität. Es geht hier immer um Menschen. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Da wo Europa draufsteht, muss auch Europa drin sein. Ich sage immer, Humanität ist die beste Sicherheitspolitik, das muss mit diesen Abkommen auch unmissverständlich umgesetzt werden.

 

Nur, ohne ein abgestimmtes Regelwerk, werden wir Migrationsbewegungen weder ordnen, noch human gestalten können. Dafür braucht es endlich eine europäische Haltung, ein neues Selbstbewusstsein für das humanistische Erbe, das Europa trägt und symbolisch der Slogan „United in Diversity” aussagt. Die Bundesregierung fehlt hier völlig der Weltblick, sie macht sich klein und versucht, durch nationale Maßnahmen Stärke zu beweisen. Es kann doch nicht nur um Macht statt um Menschen gehen. Probleme werden nur auf die deutsch-österreichische Grenze reduziert und damit wird unsere Freizügigkeit leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Unerträglich wird es aber dann, wenn Menschen nur noch zu Zahlen sind und ein Mindestmaß an menschlicher Empathie in der Debatte verloren gegangen ist. Wer so spricht, ist schlicht falsch im Amt. Das ist meine tiefe Überzeugung.

 

Es wird behauptet, dass es für die Auslieferung von bestimmten verhafteten Personen wie Peter Steudner oder Deniz Yücel zu einem Deal zwischen der Bundesregierung und Erdogan gegeben haben könnte. Was denken Sie darüber?

 

Ich will an der Stelle einmal ganz deutlich betonen, dass unsere Diplomatinnen und Diplomaten, egal wo sie auf der Welt eingesetzt sind, vor Ort einen tollen Job machen. Durch ihren Einsatz, war es möglich, dass Deniz Yücel oder Peter Steudner nach Deutschland ausreisen konnten. Von einer informellen Vereinbarung weiß ich nichts, diese Frage müsste man an die Bundesregierung richten. Grundsätzlich bin ich aber der Ansicht, dass es in der Politik ohnehin keine Deals gibt. Es geht in der Politik immer um Menschen, nicht alles ist Verhandlungsmasse.

 

Lassen Sie uns aber nicht diejenigen vergessen, die noch immer ohne Anklage in türkischer Haft sitzen. Mit über hundertfünfzig Journalisten im Gefängnis lässt Erdogan keinen Zweifel daran, dass er freie Meinungen unterdrückt, als Gefahr begreift und die Axt an Grundwerte der Demokratie anlegt. Denn Meinungs- und Pressefreiheit sind das Wesen der Demokratie.

 

Es mir wichtig, Menschenrechte mit Gesichtern und Geschichten zu verbinden.  Prominente Namen und starke, inspirierende Geschichten, zeigen den Wert der Menschenrechte, dass sie individuell sind und für jeden gelten. Es ist dein Recht und es ist mein Recht. Das möchte ich als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses leben und vermitteln.

 

Es wird berichtet, dass die türkische Regierung in Deutschland und in der EU Versuche  unternimmt, dort lebende Türken für kriminelle Machenschaften zu benutzen. Jüngster Fall dazu ist das Beispiel der Gruppe Osmanen Germania, die laut Berichten an Anschlägen und ähnlichen Delikten am Planen war. Wie ist Ihre Haltung zu dieser Thematik?

 

Es ist gut, dass die Bundesregierung die Gruppe Osmanen Germania jetzt verboten hat und hier keine falsche Toleranz zeigt. Es zeigt jedem jungen Menschen, der in Versuchung geraten könnte, dass das, was diese Gruppe macht, nichts mit einer offenen, toleranten Gesellschaft zu tun hat.

 

Wir müssen hier weiter als bisher denken. Es ist wichtig, dass unsere national wie international Sicherheitsbehörden in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben effektiv wahrzunehmen. Dafür braucht es eine vernünftige Ausstattung, genügend Personal und einen besseren Austausch von Informationen. Zum Schutz unserer liberalen Gesellschaft. Beim Kampf gegen Antisemitismus und Extremismus von rechts wie links brauchen wir einen handlungsfähigen Staat.

 

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