Wir haben uns mit der Journalistin Meşale Tolu zum Interview getroffen, um uns über ihr neu herausgekommenes Buch „Mein Sohn bleibt bei mir!“ (Rowohlt Verlag) zu unterhalten. Tolu wurde nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei festgenommen und entschied sich, ihren zweijährigen Sohn Serkan mit in die Haft zu nehmen, als dieser die Trennung von der Mutter nicht verkraftet. Über die Zeit in ihrer Haft und die Zustände in türkischen Gefängnissen für Frauen und Kinder haben wir mit der starken Frau gesprochen, die an ihrem Schmerz aus sich heraus gewachsen ist.

HA: In Ihrem aktuellen Buch „Mein Sohn bleibt bei mir!“ schildern Sie sehr emotional und detailliert von Ihrer Verhaftung und den Haftbedingungen in der Türkei als politische Geisel und Mutter mit Kleinkind. Was hat Sie dazu bewegt, hier in Deutschland all das Erlebte nochmals beim Schreibprozess zu erleben?

MT: Mich hat bewegt meine Geschichte aufzuschreiben, weil mich sehr viele Menschen angesprochen haben und gesagt haben „Sie sind so mutig! So stark und wir sind so stolz auf Sie!“ Ich habe mich immer etwas schlecht gefühlt dabei weil ich auch ein Mensch mit Ängsten bin. Ich hatte auch Angst während all dieser Zeit. Emotional war ich sehr oft bedrückt und vor allem geschwächt. Ich war nicht immer stark. Ich wollte vor allem mit diesem Buch zeigen, dass man all das erleben kann, daher habe ich auch wirklich alles, auch das emotionale, was mich bedrückt hat, aufgeschrieben, damit die Leser sehen können, ich bin so verletzlich gewesen, und ich wurde auch verletzt, aber man kann aus dieser Erfahrung auch Kraft schöpfen. Ich wollte damit anderen Menschen auch zeigen, dass sie für ihre Rechte einstehen müssen, sich solidarisieren müssen, damit sie aus solchen Erfahrungen eben gestärkt hervor kommen können. Die Motivation dieses Buches ist eben zu zeigen: man kann all das erleben, aber man kann weitermachen! Es ist wichtig weiter zu machen, vor allem für die Zukunft eines Menschen. Das war die Hauptmotivation alles aufzuschreiben wie es ist, wobei das immer eine Gefahr ist, weil man dadurch noch verletzlicher wird, denn nicht jeder ist liebenswürdig, manche sind auch sehr feindselig mir gegenüber. Aber ich nehme das alles in Kauf, weil ich denke dass im großen und ganzen das Ergebnis positiver ist, den Menschen ganz offen über alles zu berichten um sie zu motivieren weiter zu kämpfen.

Das Problem ist, dass es keine kindgerechte Gefängnishaltung in der Türkei gibt

HA: Sie entscheiden sich mit Ihrem zwei jährigen Sohn Serkan die Haft durchzustehen, nachdem er die Trennung von Ihnen kaum durchhalten kann. Sie sind in dieser Entscheidung kein Einzelfall. Momentan befinden sich knapp 800 Kleinkinder mit ihren Müttern in Haft, obwohl ein klarer Schutz und Ausnahmeregelungen von Frauen mit Kindern in Haftsituationen per Gesetz geregelt sind und derzeit in der Türkei missachtet werden. Wie muss man sich die Situation in den Gefängnissen der Türkei vorstellen? Gibt es Maßnahmen oder Vorkehrungen die „kindgerecht“ sind?

MT: Leider gibt es in der Türkei sehr viele Kinder, die mit ihren Eltern inhaftiert sind, vor allem Kinder im Alter von 0-6 Jahren. Die Zahl beläuft sich derzeit auf 700-800 Kinder. Es gibt aber keine Statistik darüber, wie viele Kinder draußen bleiben müssen. Also das heißt Kinder ab 6 Jahren, die ohne Eltern aufwachsen müssen, meist sind Vater und Mutter betroffen, das heißt Kinder werden von Verwandten großgezogen oder in Jugendheimen. Dann gibt es auch Fälle, bei denen die Kinder kleiner sind, zum Beispiel bei der HDP Abgeordneten Burcu Celik Özkan. Die Tochter ist 5 Jahre alt und ist nicht mit der Mutter im Gefängnis, weil sie einfach Angst hat. Dieses Kind versteht nicht was ein Gefängnis-Komplex ist, hat Angst vor den Wärterinnen und diese Angst hindert sie daran bei ihrer Mutter zu bleiben. Das zeigt eigentlich, dass Kinder für die Beschuldigungen der Eltern mitbestraft werden. Die Eltern müssen nichts verbrochen haben und dennoch werden ganze Familien in dieses Bestrafungssystem hineingezogen. Es gibt dort türkische Mütter, kurdische Mütter oder aus anderen Staaten Frauen, die versucht haben in der Türkei eine Existenz aufzubauen, und auch wegen verschiedenen Gründen kriminalisiert und inhaftiert wurden. Das Problem ist, dass es keine kindgerechte Gefängnishaltung in der Türkei gibt. Das heißt, es wird nicht wirklich für das Wohl der Kinder gesorgt. Wenn Kinder zum Beispiel nicht in den Gefängnis Kindergarten gehen, was bei vielen Kindern in Haft vorkommt, weil sie Angst haben sich von der Mutter zu trennen, dann tritt der Fall ein wie bei meinem Sohn Serkan, dass er keine kindgerechte Nahrung bekommt, also nur die Speisen für die Erwachsenen mitessen kann, mit mir in der Zelle ist, kein Kinderbett hat, keine Kindertoilette hat. Spielsachen sind generell verboten! Sie dürfen nur mit den Spielsachen des Kindergartens spielen, und das sind meistens Spielsachen aus Plastik, die nach zweimal Fahren kaputt gehen. Das System ist folglich nicht so eingerichtet, dass Kinder dort überleben können. Lediglich das Engagement der Häftlinge und Mütter dort ermöglicht das Überleben der Kinder dort in Haft, damit sie zumindest einen Hauch von kindgerechtem Leben spüren können, das heißt, wenn wir Bilder an die Wand malen, wenn wir aus Plastikflaschen Autos bauen, nur dann können wir diese Kinder etwas motivieren ein normales Kinderleben dort zu erleben. Aber ganz sicher ist es hinter Gittern kein normales Leben. Hinter grauen Zellen Kinder großzuziehen, die eigentlich genau das Gegenteil symbolisieren, nämlich Farbe, Lebensfreude, Vielfalt… Das System ist eigentlich von daher so ausgerichtet, Eltern insbesondere dadurch zu bestrafen, indem sie auch die Kinder bestrafen!

Ich habe daran gezweifelt, ob die Entscheidung richtig war, Serkan mit ins Gefängnis zu nehmen

HA: Sie beschreiben die erste Nacht als Serkan mit Ihnen in der Gefängniszelle verbringt. Weder Windel noch Schnuller oder Milchflasche, die von ihrer Familie mitgebracht wurden, wurden Ihnen in dieser Nacht bereitgestellt. Wie muss man sich eine solche Nacht vorstellen?

MT: Die erste Nacht war auch meine schlimmste Nacht. Das war die Nacht in der ich auch sehr viel bereut habe. Bereut in diesem Sinne: ich habe daran gezweifelt, ob die Entscheidung richtig war, Serkan mit ins Gefängnis zu nehmen. Mein Sohn hatte nichts! Keine Windel, Pyjamas, Ersatzklamotten! Aber das wichtigste: er hatte keinen Schnuller und keine Milchflasche! Für ein Kind im Alter von zwei Jahren ist das lebensnotwendig! Das war die eine Nacht, wo er auch sehr viel protestiert hat, geweint hat, alles gesagt hat: „Warum sind wir hier? Ich will nach Hause! Was soll das alles?“ Einem zweijährigen Kind, das alles verständlich zu machen, stößt an alle Grenzen! Auch für Mütter- und das sorgt für Verzweiflung! Daher war das meine schlimmste Nacht im Gefängnis. Meinen Sohn musste ich in dieser Nacht weinend in den Schlaf wiegen. Zum Glück hatte ich Frauen, die mich unterstützt und motiviert haben und sagten „alles wird besser!“ Hätten das System und die Gefängniswärter nicht das Ganze erleichtern können? Natürlich hätten sie das alles erleichtern können, indem sie lediglich den Schnuller gegeben hätten. Aber, wie gesagt, weil alles darauf ausgerichtet ist, eine Bestrafung durchzuführen, wurde alles erschwert. Wir haben es dennoch geschafft einen Weg zu finden um Serkan dort schnell einzugewöhnen.

Das Problem ist, dass die Bundesregierung und die EU jahrelang zugesehen hat, wie sich in der Türkei eine Alleinherrschaft etabliert!

HA: Immer noch gelangen viel zu wenige Informationen über die Zustände der Gefängnisse und der Insassen, insbesondere der unschuldigen Kinder an die breite Öffentlichkeit außerhalb der Türkei. Selbst in Deutschland bekommt das Leid zu wenig Gehör. Was denken Sie sind die Ursachen, dass diese prekäre Menschenrechtsverachtung billigend in Kauf genommen wird?

MT: In Deutschland ist immer wieder Öffentlichkeit vorhanden, wenn Deutsche betroffen sind. Wir reden über die bisherigen zwei Jahre und 2017 war der Höhepunkt der deutsch-türkischen Krise. Das war auch das Jahr in dem die Medien sehr viel berichtet haben. Jetzt hören wir immer wieder vereinzelt aus der Türkei über Menschenrechtsverletzungen. Das Problem ist, dass die Bundesregierung und die EU jahrelang zugesehen hat, wie sich in der Türkei eine Alleinherrschaft etabliert! Vor den Augen dieser europäischen Länder, hat Erdogan ein System aufgebaut, dass allein auf ihn zugeschnitten ist. Damit waren eigentlich schon immer Menschenrechtsverletzungen verbunden. Ein weiteres Problem ist, dass das europäische Gericht für Menschenrechte bei vielen Verfahren einfach ein Auge zugedrückt hat, oder sogar negativ entschieden hat und das zeigt uns eigentlich, dass auch die europäischen Länder in ihrem eigenen Interesse handeln, und nur dann reagieren, wenn die mediale Öffentlichkeit und der Druck von den Menschen aus Deutschland beispielsweise, so hoch wird, dass sie nicht mehr Stand halten können- dass für meinen und andere Fälle so viel Druck entstanden ist, haben wir natürlich der Solidarität in diesem Land zu verdanken! Viele Menschen haben sich für uns eingesetzt, sind auf die Straße gegangen, haben darüber berichtet, ich bin mir nicht sicher ob die selbe Öffentlichkeit entstanden wäre, und wir sehen es ja auch an den Beispielen nach uns an Hozan Caney, Patrick K. oder andere Deutsche in der Türkei verurteilt wurden und ihre Haftstrafe absitzen. Das zeigt uns also dass diese Öffentlichkeitsarbeit und der Druck enorm wichtig sind.

HA: Sie haben die deutsche Staatsangehörigkeit, sodass die Bundesregierung ein besonderes Bestreben zur Rettung ihrer Bundesbürgerin gehabt hatte. Ähnlich verhielt es sich auch im Fall von Deniz Yücel. Denken Sie, dass es auch für Nicht-Deutsche Opfer seitens der Regierung eine Möglichkeit der Hilfe oder Solidarisierung geben könnte?

MT: Es ist wichtig, dass die Bundesregierung sich generell für Menschenrechte einsetzt. Dass sie generell darauf achtet, dass die Türkei Abkommen einhält. Die Türkei ist eines der größten NATO-Partner, mit der zweitgrößten Armee in diesem Bündnis, und es sind auch viele weitere Abkommen, wie EU und andere, außerhalb der NATO die mit der Türkei vereinbart sind. Da ist es doch immer wichtig, dass Deutschland immer darauf schaut, dass die Türkei sich an diese Abkommen hält, dass der Partner ein verlässlicher Partner ist. Aber wir sehen an allen Beispielen, dass außer wirtschaftlichen Interessen und sozialen, wie zum Beispiel die Flüchtlingsfrage, alle anderen Abkommen nicht eingehalten werden, und dass tagtäglich Foltervorwürfe oder auch Menschenrechtsverletzungen eigentlich durchsickern aber es keine Reaktion seitens der Bundesregierung oder auch anderen Ländern gibt. Das zeigt uns, dass unsere Politik in Deutschland nicht menschenrechtszentriert sondern wirtschaftlich und militärisch zentriert ist. Interessen treten in den Vordergrund. Das ist sehr schade, weil es sicherlich effektiver wäre wenn der Partner, egal zu welchem Abkommen, einfach ein verlässlicher und vertrauensvoller Partner wäre. Wir haben sehr viele Beispiele erlebt, in denen Deutschland direkt angegriffen wurde von der Türkei, verbal mit „Nazi-Methoden“ beschimpft wurde. Da stellt sich natürlich die Frage, müsste man nicht vorher einige Probleme aus dem Weg räumen, bevor man weiterverhandelt?

Denn genau diese Frauen benötigen auch unsere Solidarität!

HA: Sie beschreiben eine warme und innige Solidarisierung zwischen den weiblichen Inhaftierten in Ihrem Buch. Ähnliche Beschreibungen findet man auch bei Asli Erdogan, die nun Deutschland über die Zustände in der Türkei aufklärt. Wie haben Sie diese Erfahrung in Erinnerung und besteht noch Kontakt zu diesen Frauen?

MT: Die Erfahrungen, die ich im Gefängnis gemacht habe sind eigentlich die besten, die ich in dieser Zeit gemacht habe. Ich erzähle eigentlich von dieser Zeit im Gefängnis sehr positiv, obwohl die ganze Geschichte eine negative Geschichte ist. Das kann man sich vielleicht so vorstellen, wie wenn zwischen Beton-Wänden etwas grünes rauswächst und das ist das positive, was ja auch das Leben symbolisiert. Und im Gefängnis ist auch alles grau, düster, kalt. Nur Fließen und Beton. Dann sind da aber auch ganz warmherzige Frauen in diesen Zellen und unterstützen einen eigentlich komplett ohne irgendwelche Selbstinteressen. Das ist die Phase und die Zeit, die mein Leben verändert hat. Denn ich bin dort als eine Mutter angekommen, die sehr verzweifelt war, die sehr viel Angst hatte, von all dem Erlebten aber auch vor der Zukunft. Diese Frauen haben mir gezeigt, wie ich diese ganzen Schwächen in Stärken umwandle. Sie müssen dafür keine Experten sein, um das zu machen. Es sind Menschen, die dasselbe erlebt haben, und daraus Ergebnisse und Konsequenzen gezogen haben. Daher ist es auch wichtig, diese Solidarität überall bekannt zu machen. Denn genau diese Frauen benötigen auch unsere Solidarität! Ich habe weiterhin Kontakt mit ihnen. Ich kann sie leider nicht mehr besuchen weil ich nun in Deutschland bin. Aber wir haben Briefkontakt. Ich weiß zum Beispiel dass es sehr schön ist wenn sie mein Päckchen bekommen mit Kleidung oder Büchern. Mir hat es sehr viel gebracht, dass ich so viele Bücher von draußen bekommen habe, von fremden Menschen. Ich versuche einfach diese Tradition weiter zu führen, in dem ich ihnen auch kleinere Geschenke mache oder einfach auch nur Bilder schicke und sie wissen, dass es uns gut geht.

Viele Familien hatten wirklich vorher keinerlei politischen Kontakt gehabt und werden jetzt dafür bestraft

HA: Das türkische Regime versucht wenn sie die jeweiligen Beschuldigten nicht fassen kann, diese mittels ihrer Familienmitglieder zu bestrafen, indem sie diese ihrer Rechte beraubt, wie zum Beispiel Ihren Ehemann oder Can Dündars Ehefrau durch die Ein- und Ausreiseverbote. Diese Maßnahmen sind historisch bekannt als Sippenhaft aus dem Nationalsozialismus. Wie empfinden Sie diese Maßnahmen?

MT: Die Maßnahmen, Familienmitglieder zu bestrafen, sind in der Türkei nicht neu. Es ist heute einfach aktueller weil viele populäre Menschen davon betroffen waren oder es immer noch sind. Es gab früher immer wieder Fälle, bei denen man wusste, dass Familienmitglieder entführt wurden oder Gewalt angetan wurde. Es gibt ja in der Türkei auch die Geschichte der „verschwunden- gelassenen-Menschen“. Leider betrifft es heute tausende Menschen. Viele Menschen können selber nicht mehr in die Türkei einreisen und haben auch Angst um die Hinterbliebenen. Der Staat setzt da eine sehr willkürliche Bestrafungsmethode ein- erzwingt eigentlich, dass diese zurück in die Türkei kommen, um ihre Familienmitglieder zu befreien. Ich hatte selbst das Problem, als mein Mann eine Ausreisesperre hatte und als ihm erneut vor zwei Wochen wieder der Pass abgenommen wurde. Das war ein Zeichen dafür um zu sagen „bleibt fern! Oder wir behalten euch hier!“ Das war bei Can Dündar dasselbe. Seine Frau Dilek Dündar hat selber kein Verfahren, es ist nicht rechtens sie in der Türkei festzuhalten, und das über Jahre hinweg. Sie konnte weder ihren Sohn noch ihren Ehemann sehen! All das zeigt uns, dass das sehr diktatorische und reaktionäre Methoden sind, gegen die eigentlich auch die breite Öffentlichkeit protestieren müsste. Auch internationale Sanktionen müssten verordnet werden, denn jeder Mensch kann nur für die eigene Verantwortung zur Rechenschaft gezogen werden und nicht die ganze Familie sollte da mit hineingezogen werden. Viele Familien hatten wirklich vorher keinerlei politischen Kontakt gehabt und werden jetzt dafür bestraft. Leider gibt es auch den Fall dass viele Beamten aus dem Amt entlassen wurden und mit ihnen auch ihre Familienmitglieder. Das zeigt eben dass man damit die ganze Familie einschüchtern will. Also ein ganzes Volk einschüchtern und beängstigen möchte!

Ganz einfache Hausfrauen, die eigentlich keine Ahnung von der Politik und dem öffentlichen Leben hatten

HA: Vor kurzem wurde über die Sozialen Medien über einen Vorfall in Halfeti berichtet bei dem Frauen beim Verhör schwer misshandelt und gefoltert wurden. Derartig gewaltige Übergriffe sind leider kein Einzellfall. Es scheint derzeit generell eine vermehrte Gewalt gegenüber Frauen und Kindern in der Türkei zu geben. Was glauben Sie sind die Gründe dafür? Wie würden Sie in einem Dreieck von Gesetzen, Traditionen und politischer Polarisierung den Gewaltmechanismus an Frauen interpretieren?

MT: In der Türkei ist das Patriarchat leider sehr stark ausgeprägt. Das ist nicht neu! In der türkischen Kultur und Tradition war das schon immer so, dass die Frau selbst noch hinter dem Ochsen kam, also erst der Mann, dann das Vieh und dann erst die Frau. Diese Haltung wird heute von dieser Regierung auch repräsentiert und vertreten. Der Staatspräsident selbst hat immer wieder verkündet, Frauen sollen drei Kinder gebären und gefälligst in ihren eigenen vier Wänden sitzen. Alle anderen Frauen, die diese traditionelle Geschlechterrolle nicht einhalten, werden dafür bestraft. Daher ist es nicht zufällig, dass insbesondere Politikerinnen, also Frauen, die sich in die Politik einmischen, für ihr Verhalten bestraft werden und auch repressiv behandelt werden. Es gab in den 80er und 90er Jahren viele Fälle von Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Polizeihaft. Das gibt es leider heute immer noch. Die Aussagen dazu sind alle sehr überzeugend. Ich selber bin oft Zeuge geworden in Polizeihaft, wie Frauen neben mir schwer misshandelt wurden, Gewalt angetan wurde. Insbesondere in dieser neuen Phase, also nach dem Putschversuch 2016, wurden sehr viele unschuldige Frauen wegen der Fethullah Gülen Mitgliedschaft unter diesen Vorwürfen festgenommen. Ganz einfache Hausfrauen, die eigentlich keine Ahnung von der Politik und dem öffentlichen Leben hatten. Und all diese Frauen kennen sich natürlich auch nicht darin aus, Widerstand zu leisten! In ihren Fällen droht der Staat mit Familie und Kindern! Hierbei argumentiert die Regierung mit religiösen Argumenten in dem sie sagt „in unserer Religion ist die Frau an zweiter Stelle!“ oder an hinterster Stelle. Das wird den Frauen immer wieder so lanciert. Sie sollen sich gefälligst in ihren Schranken bewegen ansonsten erfahren sie andere Dinge. Aber ich denke dass es in der Türkei trotzdem eine große Widerstandskultur gibt, vor allem bei den Frauen. Wir können heute sagen, die Frauenbewegung in der Türkei die stärkste zivile Bewegung ist. Das sehen wir an den 8. März Märschen in Istanbul, aber auch am 25. November, am Tag gegen Gewalt an Frauen. Da sehen wir eben, dass Frauen immer wieder die Schranken brechen, dass sie sich nicht in die Rolle einzwängen lassen wollen, dass sie gegen Ehrenmorde, familiäre Gewalt, gegen staatliche Gewalt auf die Straße gehen. Und das erwartet man eigentlich gar nicht, weil man denkt, wenn Frauen so häufig Opfer von Gewalt werden, dann trauen sie sich nicht mehr. Aber es ist genau das Gegenteil! Weil sie eben so viel Gewalt und Repression erfahren, sind sie an ihre Grenzen angekommen. Viele Frauen protestieren dagegen, selbst wenn es sie das Leben kostet. Es gibt sehr viele Frauen, die ihre Ehemänner ermorden müssen, weil ansonsten ihr Leben in Gefahr ist, was ja dann eigentlich Selbstschutz ist. Man muss es als Selbstschutz sehen weil in der Türkei täglich fünf Frauen an Ehrenmord ihr Leben verlieren. Die frauenfeindliche Politik des Staates möchte all das mit Religion und anderem begründen.

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